Kritik: „Queer“

5 mins read

Niemand in Hollywood hat die gleiche disziplinierte Arbeitsmoral wie Luca Guardagnino (außer vielleicht Ayo Edebiri, die ironischerweise in seinem nächsten Film mitspielen wird). Man hat fast das Gefühl, dass der italienische Regisseur, der gefeierte Filme wie „Call Me By Your Name“, „Bones and All“ und zuletzt den großartigen „Challengers“ gedreht hat, mindestens einmal im Monat einen neuen Film dreht. (Aber mindestens so viele Filme, wie angekündigt werden, werden nie gedreht. In diesem Jahr gibt es eine Besonderheit: Nachdem „Challengers“ wegen des Schauspielerstreiks verschoben wurde, damit Zendaya, Mike Faist und Josh O’Connor genügend Presse bekommen konnten, was sich für das Liebesdreieck ihrer Figuren sehr ausgezahlt hat, feierte sein neuestes Werk, das auf dem gleichnamigen Buch von William S. Burrough basiert, unter fast zehnminütigen Standing Ovations bei der Premiere des Filmfestivals von Venedig Premiere – mit Oscar-Rufen für Daniel Craig.

Was ihn jedoch sofort von den oben genannten Filmen in Guadagninos Filmografie und von „Queer“ unterscheidet, ist seine Zugänglichkeit. Wer denkt, dass es wegen der scheinbar schwulen Altersunterschieds-Romanze in die Richtung von „Call Me By Your Name“ geht, wird schnell eines Besseren belehrt. Zwar geht es diesmal darum, dass der Ältere dem Jüngeren hinterherläuft, aber schon in der zweiten Hälfte wird klar, ob der Film den persönlichen Geschmack treffen wird.

Die beiden Hauptfiguren treffen sich in der Bar „Ship Ahoi“ in New Mexico und es entwickelt sich ein Katz- und Mausspiel voller Lust und Spannung, wie man es von einem Regisseur erwarten würde. Leidenschaft und Erotik werden mit Zärtlichkeit gepaart und entfachen eine Elektrizität, wie sie nur Luca Guadagnino mit seinen Figuren erreichen kann. Vor allem Daniel Craig treibt er zu Höchstleistungen, noch nie hat er sich so entspannt und cool gefühlt – und wir reden immer noch von dem Mann, der schon James Bond und Benoit Blanc aus sich herausgekitzelt hat. Zu ‚Come As You Are‘ von Nirvana legt sein Charakter William Lee eine Eröffnung hin, die ihn zweifellos zu einer QUEEREN-Ikone machen wird (als ob er das nicht schon wäre).

Craig und sein Gegenspieler Drew Starkey werden in den schönsten gedämpften Neonlichtern und traumähnlichen Sequenzen dargestellt, die zweifellos auch aus „Poor Things“, „The Shape of Water“ oder sogar einem Film von Pedro Almodovar stammen könnten. Sein Kameramann Sayombhu Mukdeeprom, der mit ihm schon bei Call Me By Your Name„, Suspiria“ und Challengers„ zusammengearbeitet hat, fängt einige der schönsten Bilder des ganzen Jahres ein, und auch Drehbuchautor Justin Kuritzkes aus Challengers“ ist wieder mit am Start, doch statt den Geist vergangener Filme fortzusetzen, wird eine Geschichte erzählt, die Anleihen bei David Lynch macht und sich in ein geiles, nerdiges und trauriges 2001: Odyssee im Weltraum‘ – ja, es ist genau so verrückt, wie es klingt. Apropos Sound: Die genialen Trent Reznor und Atticus Ross sind auch wieder mit von der Partie.

Ein Trip der ganz anderen Art, Süchte, die es zu bewältigen gilt und ein einsamer Mann, der Bestätigung sucht. Der heimliche Star mit leider sehr wenig Screentime ist Schauspieler Jason Schwartzman (als fetter Tom-Cruise-Imitator á la ‚Tropic Thunder‘), der jede einzelne Szene, die man ihm gibt, stiehlt. Hier geht es um weit mehr als nur um die Frage, was es bedeutet, queer zu sein; es geht um Schwerelosigkeit und Schweben, um die Angst, seine Gefühle auszudrücken, um das Rechnen mit Vorurteilen und um das Auftrumpfen mit Wissen – und das alles, während ein westlicher Filmemacher endlich zeigt, dass New Mexico und Südamerika weit mehr sein können als ein gelblicher Netflix-Filter. Die Landschaft und ihre Kultur sind voll von Lebenswillen. Kann eine Verbindung zwischen queeren Menschen funktionieren oder wird das Verlangen nach einer Droge, die viel stärker ist als Sex, alles zerstören?

„Queer“ ist eine Explosion, sowohl für die Figuren als auch für die eigenen Sinne, man berauscht sich, so sehr, dass diese Droge zu viel Schaden anrichten kann.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Previous Story

Kritik: "Blitz"

Latest from Filmkritiken

Review: „Whiplash“

Kurz nachdem Damien Chazelle 2013 seinen achtzehnminütigen Kurzfilm mit dem Titel „Whiplash“