Essay: „Roter Himmel“ und die lichtende Glut

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Es ist Nacht und er blickt auf das offene Meer hinaus. Bis jetzt hat er diese Schönheit, dieses Glitzern auf dem Wasser ignoriert – er wollte es nicht einmal wahrnehmen. Aber jetzt, wo die Leere seinen Körper umhüllt und seine Seele einnimmt, wird er plötzlich aufmerksam. Wie ein einziges Feuer, eine Flamme in ihm und um ihn herum, mit einem Fingerschnippen alles verändern kann. Vorher war er blind gewesen. Wollte seine Gefühle und das, was ihr Lächeln in ihm auslöst, nicht wahrhaben. Sie ist diejenige, die ihm Wahrheiten entlockt und nichts beschönigt. Sie ist die Frau, die er eigentlich nicht will, weil sie seine Welt nur noch mehr ins Wanken bringt, und gleichzeitig ist sie das Einzige, was er noch hat.

Diese Reise, die eigentlich nur für die Arbeit gedacht war und bei der er keine Ablenkung hätte gebrauchen können. Aber in der warmen Juni-Sonne, dort in den hohen Gräsern, in dem Haus mit den zu dünnen Wänden und dem undichten Dach, da ist es passiert. Dort drehte sich alles. Von oben nach unten, auf den Kopf gestellt, mit einem im Sand verstreuten Manuskript und Erkenntnissen, die ihm viel zu spät kamen.

Kopfschüttelnd hört er ihr zu, wie sie mit ihrer nervtötend schönen Stimme Gedichte rezitiert: Es ist von Heinrich Heine, ja natürlich ist es Heine, der davon schreibt, wie die schöne Sultanstochter täglich zur Abendzeit am Brunnen auf und ab sitzt, wo das weiße Wasser plätschert und die junge Sklavin immer blasser wird. „Ich will deinen Namen wissen, deine Heimat, deine Sippe!“, sprach ihn die Prinzessin eines Abends mit schnellen Worten an. Und der Sklave sagte: „Mein Name ist Mohamed, ich komme aus dem Jemen, und mein Stamm sind die Asra, die sterben, wenn sie lieben.“

In seinen Gedanken, ja, da ist es passiert. All der Schmerz, all die Tränen – all das bleibt in seinem Kopf vergessen, denn die Liebe macht blind und ein letzter Blick genügt, um alles Unausgesprochene wieder gut zu machen. Dort auf dieser Terrasse, als er hinter dem Gebüsch hervorschaut und ihr in die Augen sieht.

Vielleicht hatte er dann endlich gelernt, dass Fehler menschlich sind und es darauf ankommt, wie man mit ihnen umgeht. Eine gleichmäßig zurückgelehnte Chaiselongue, wie das Nachbeben eines Sturms, eines Bebens, eines Feuers. Dort im roten Himmel konnten sie unendlich sein, wie zwei sterbende Liebende, Hand in Hand und Arm in Arm, wie im alten Pompeji. Hier, wo nichts mehr war, wie es vorher war, würden sie noch mehr aufflammen. Und gemeinsam den ganzen Wald niederbrennen.

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